Die Lebensgeschichte der wohl ältesten freifliegenden Störchin Deutschlands

 

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Im 35. Lebensjahr erleidet sie eine Schussverletzung des Flügelgelenks

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Sie zog nachweislich 51 Jungstörche groß, möglicherweise sogar noch mehr

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Seit 1999 überwinterte sie mit dem unberingten Partner stets am Bruthorst in Wiemerstedt

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Das Gnadenbrot erhält sie ab 25.08.19 nun in der Pflegestation in Erfde

 

Wiemerstedt--- ein kleines Bauerndorf, gelegen in der Broklandsau-Niederung im nördlichen Dithmarschen in Schleswig-Holstein – beherbergte bis 2019 ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Storchenpaar.

Jedenfalls seit dem Jahre 1999, denn ab dem Jahr zogen die Störche nicht mehr wie üblich gegen Ende August in das Winterquartier.

 

Ältere Wiemerstedter Einwohner können sich nicht entsinnen, das der Ort mal kein Storchenpaar hatte. Im Gegenteil: Aus früheren Erzählungen ist sogar von mehreren bewohnten Storchennestern die Rede.

 

Das Weibchen des Brutpaares ist mit einem Metallring der Vogelwarte Helgoland über dem rechten Fußgelenk beringt. Sie wurde am 07.07.1984 !!! in Friedrichsgraben an der Eider, einem kleinen Ort gegenüber von Tielenhemme als Nestjunges vom dort zuständigen Gebietsbetreuer Johann Haecks, aus Schacht-Audorf, mit dem Ring

775F gekennzeichnet.

 

Durch diesen Ring ist der Lebenslauf der Störchin fast lückenlos dokumentiert, und so konnten viele interessante brutbiologische Daten erfaßt werden. Geübte Storchenexperten können mit einem Spektiv—einem bis zu 60-fach vergrößerndem Fernrohr- die Ringnummer ablesen und das Datum und den Ableseort anschließend der Vogelwarte melden.

Über 40 Meldungen liegen der Vogelwarte Helgoland von dieser außergewöhnlichen Störchin zwischenzeitlich vor. Mit nun 35 Jahren ist sie vermutlich eine der ältesten freifliegenden Störche in Deutschland gewesen, möglicherweise sogar die Älteste überhaupt.

 

Vor der Umsiedlung der Störchin im Jahre 1999 nach Wiemerstedt sind die folgenden Daten bekannt geworden.

 

1987: Schon als dreijährige Rückkehrerin bemüht sie sich in Winnert/Nordfriesland ein Nest zu besetzen, scheitert allerdings erfolglos.

 

1988 : Aufenthalt unbekannt= sie wurde nirgends abgelesen, könnte sich aber durchaus in Schleswig-Holstein unerkannt aufgehalten haben.

 

1989: Zunächst als Einzelstörchin(ohne Partner) in Herrenhallig/Nordfriesland. Gegen Ende Mai dann verpaart auf einem Baumhorst in Süderstapel/Stapelholm mit dem

Männchen Helgoland E 2902 , das Paar blieb ohne Junge. Status HPo

 

1990:

Hennstedt-Horst, verpaart mit dem Männchen Helgoland 453 K, auch mit diesem

neuen Partner blieb sie leider erneut erfolglos. Status HPo

 

1991: Aufenthalt unbekannt, keine Ablesung gemeldet worden. Es ist nicht auszuschließen, das sie im Winterquartier übersommert haben könnte, also gar nicht gezogen ist. Dies könnte auch in den Jahren 1988, 1991, und 1995 möglich gewesen sein.

 

1992:

Hennstedt-Horst, verpaart mit einem unberingten Partner, das Paar blieb leider 

erfolglos. Status HPo

 

1993: St.Annen-Österfeld, verpaart dort mit Männchen Arnhem 1032, vorher im zeitigen Frühjahr Brutvogel in Seeth/Nordfriesland, dortiger Partner war das Männchen Helgoland 632P, das Paar in Seeth trennte sich Mitte April 1993. In St. Annen-Österfeld zog sie nun mit dem neuen Partner 4 Junge erfolgreich auf. Status HPm 4

 

1993/ 1994 Erste nachgewiesene Überwinterung in St. Annen-Österfeld

 

1994: St. Annen-Österfeld, mit Partner Arnhem 1032 zieht sie erneut 4 Jungstörche auf. Status Hpm 4

 

1995: Unbekannter Verbleib: Sie war in diesem Jahr auf jeden Fall kein Brutvogel in St. Annen-Österfeld. Das dort 1995 brütende Weibchen war unberingt, das

Männchen mit Helgoland 5216 beringt. Dort also ein völlig neues Paar auf dem Horst.

 

1996: Wieder in St. Annen-Österfeld, nun mit dortigem Männchen Hel.5216 verpaart.

Mit diesem neuen Partner zieht sie dort 3 Junge auf. Status HPm 3

 

1997: Schlichting, mit unberingtem Partner, das Paar bleibt erfolglos. Status HPo

 

1998: Kleve/Dithmarschen mit unberingtem Partner. Vorher Erstbrut in St. Annen

Österfeld mit ebenfalls unberingtem Partner. Nach heftigem Nestkämpfen vertrieben

worden und Umsiedlung nach Kleve. Dort noch Spätbrut mit 2 Jungen. Status HPm 2

 

Nach der Umsiedlung 1998 auf ein Mastnest in Kleve, kam es dort trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit noch zu der o.g. Spätbrut aus der 2 Jungstörche hervor gingen. Übrigens die erste erfolgreiche Brut nach mehreren Jahrzehnten in Kleve. Seit

dieser Zeit ist das dortige Mastnest auch alljährlich wieder besetzt. Das Nestangebot auf einem Gebäude blieb von den Störchen unbeachtet, obwohl es auch jedes Jahr in Ordung gehalten wurde. Die Störchin 775 F war also an der Gründung des Nestes in Kleve ausschlaggebend beteiligt.

 

Im Herbst 1998 hatten im nördlichen Dithmarschen mindestens 6 sowohl Altstörche als auch Jungstörche den Abzug verpasst, und auch in Wiemerstedt blieb ein Altstorch zurück.

Die Störchin 775 F hielt sich mit ihren beiden flüggen Jungen aus der 1998 er Spätbrut im Klever Raum auf. Der Verbleib der beiden Jungen ist unbekannt.

Die Störchin 775 F hingegen zog nach den ersten Frosttagen wieder an den ihr bekannten Horst in St. Annen-Österfeld, wohl wissend das man ihr dort mit Zufütterung über den Winter helfen würde. Sie verbrachte den Winter dort; allerdings alleine.

 

Im zeitigen Frühjahr 1999 fand dann die Umsiedlung nach Wiemerstedt statt.

Das dortige unberingte Männchen hatte 1998/1999 ebenfalls --- alleine--- überwintert.

 

Nun zum Bruterfolg in Wiemerstedt für die Jahre 1999 – bis 2019::::

 

1999: wie auch in allen folgenden Jahren mit dem unberingten Partner, Bruterfolg auf Anhieb sogar 5 Junge. Status HPm 5

 

2000: Drei Jungen wurden flügge. Status Hpm 3

 

2001: Zwei Jungen fliegen aus. Status Hpm 2

 

2002: Erneut werden 3 Jungen flügge Status HPm 3

 

2003: Nur 1 Jungstorch kann ausfliegen Status Hpm 1. Es waren allerdings 4 Jungstörche im Horst vorhanden. Drei der Jungen verendeten bei einer Starkregenperiode gegen Ende Mai. Sie waren schon so groß, dass sie von den Altvögeln nicht mehr gehudert (gewärmt) werden konnten.

 

2004: Zum zweiten Mal zieht die Störchin 775 F in Wiemerstedt 5 Junge auf. Status Hpm 5

 

2005: Wieder ist das Paar erfolgreich, 4 Junge fliegen aus Status HPm 4

Ein Jungstorch aus der Brut 2005, mit der Ring Nr. 2X803 wird am 03.12.2005

in Medina Sidonia/Spanien von der Ableserin Adele Borschel, Lüchow, nachgewiesen. Ein Hinweis also, dass die Jungen möglicherweise Westzieher sind.

 

2006: Wieder eine erfolgreiche Brut mit 4 Jungstörchen Status HPm 4

 

2007 : Erneut werden wieder 4 Junge flügge Status HPm 4

 

2008: In diesem Jahr kein Bruterfolg Status HPo

 

2009: Nur ein Jungstorch kann ausfliegen Status HPm 1

 

2010: Wieder ein Jahr ohne Bruterfolg Status HPo

 

2011: In diesem Jahr ziehen die beiden 2 Jungstörche groß Status HPm 2

 

2012: Ständiger Wechsel, wieder ein Jahr ohne Jungvögel Status HPo

 

2013: Bescheidener Bruterfolg mit 1 Jungem Status HPm 1

 

2014: Wieder ohne Junge Status HPo

 

2015: Nun gibt es wieder mal 1 flüggen Jungstorch Status HPm 1

 

2016: Auch in diesem Jahr nur wieder 1 Jungstorch Status HPm 1

 

2017: Im Wechsel, wieder Jahr ohne Bruterfolg Status HPo

 

2018: Obwohl schon 34-jährig noch Bruterfolg mit 1 Jungen Status HPm 1

 

2019: Keine Jungen mehr, 1 angepicktes Ei mit einem voll entwickelten Embryo

wurde von Anwohnern unter dem Horst entdeckt. Status HPo

 

In den 21 Jahren als Brutstörchin in Wiemerstedt, den Bruten nach erfolgten Überwinterungen, zog 775 F dort insgesamt 38 Junge erfolgreich auf.

Das entspricht einem durchschnittlichen Bruterfolg von 1,81 pro Saison.

 

In den Jahren 1987- 1998 sind zumindest 4 weitere erfolgreiche Brutjahre, nämlich in

1993/1994/1996 und1998 bekannt. In diesen Jahren zog sie auch 13 Jungstörche auf.

 

Der Brutbeginn des Wiemerstedter Winterpaares lag stets zwischen dem 10. - 15.März des jeweiligen Jahres.Häufiger kam es vor, daß schon das Gelege bebrütet wurde, obwohl noch Nachtfröste mit über 10 Grad Minus herrschten.

 

Die flüggen Jungen hatten wegen des frühen Brutbeginns in der Regel stets 4 Wochen mehr ihre Flugkünste einzuüben.Sie verschwanden vom elterlichen Horst vor Beginn des Hauptabzuges der übrigen, benachbarten Population. Alle 38 in Wiemerstedt erbrüteten Jungstörche zogen artgerecht ins Winterquatier ab. Leider blieben viele wegen des seinerzeitigens Beringungsverbotes unberingt. Erst die Fünferbrut des Jahrgangs 2004 wurde mit den neuen ELSA Ringen der Vogelwarte Helgoland

gekennzeichnet.

Vom Herbstzug 2004 liegt von einem der beringten Wiemerstedter Jungstörche ein Nachweis vor. Der am 02.06.2004 beringte Jungstorch mit der Ring Nummer1X841 wurde am 22.08.04 im Wildpark Eekholt in einem Trupp wegziehender Störche mit

62 Exemplaren gesichtet.

Die Ablesung gelang dem Storchenfachmann, Georg Fiedler, seinerzeit wohnhaft in

Glücksburg.

 

Am 25.08.2019 ereilte ein unglaublicher und tragischer Schicksalstag diese Störchin.

Gegen 20.00 Uhr erhielt ich einen Anruf aus Wiemerstedt. Mir wurde mitgeteilt, daß

die alte Störchin an diesem über 30 Grad heißen Sommertag, auf einer Wiese am Ortsrand von Wiemerstedt wohl im Sterben liege. Auf Grund des sehr sehr hohen Alters wäre das ja durchaus möglich.

Zusammen mit dem Altbauern Detlef Hinrichs fuhr ich zu der Wiese. Wir fanden die Störchin stehend mit etwas herab hängendem Flügel vor. Als wir von zwei Seiten vorsichtig uns dem Tier näherten, versuchte sie aufzufliegen. Aber esging nicht mehr. Sie überschlug sich, und beim 2. Versuch konnten wir die Störchin einfangen.

Ich brachte sie umgehend in die Pflegestation zu Stephan Struve nach Erfde.

Stephans Tochter und er nahmen die Erstversorgung vor.

Zunächst wurde einmal Wasser verabreicht. Nach Feststellung des Gewichtes von 3000 gr. wurde eine für dieses Körpergewicht bestimmte Menge Antibiotikum verabreicht. Der Flügel wurde bandagiert und 775 F kam zu den anderen Pfleglingen in das Gehege.

Am nächsten Tag nahm sie auch eine gute Menge Futter problemlos an.

Als sich nach einigen Tagen keine Besserung was den herabhängenden Flügel anbelangte, abzeichnete, wurde eine Röntgenaufnahme in der Kleintierpraxis von Herrn Dr. Frahm, in Wasbek, veranlaßt.

Dort wurde festgestellt, daß im Flugelgelenk eine Gewehrkugel in der Größe von mindestens 5,5 mm steckte. Eine OP war und ist wegen des sehr hohen Alters der Störchin nicht mehr durchführbar.

 

Die Störchin war also beschossen worden. Es ist nicht zu glauben, das Menschen heutzutage auch noch so eine niederträchtigen , kriminelle Tat begehen.

 

Die Presse (Dithmarscher Landeszeitung) wurde informiert. Auf Seite 1 mit einem

ansprechenden Bild berichtete die DLZ am 10.09.19 ausführlich über diese unglaubliche Tat. Am 14.09.2019 erschien ein weiterer Bericht-wieder mit

Bild-- und es wurde mitgeteilt, das die Gemeindevertretung Wiemerstedt eine Belohnung in Höhe von 500,00 Euro zur Ermittlung des Täters ausgesetzt hat. Auch einige Privatperson stockten die Belohnungssumme noch auf. Nunmehr beträgt die Summe der ausgesetzten Belohnung schon 1.250,00 Euro.

Auch der NDR berichte im Schleswig-Holstein Magazin auf N 3 in einem Filmbeitrag.

Die Störchin wurde in der Station gezeigt, und Stephan Strufe und Rolf Zietz wurden zu der Sache in einem Interview gehört. Auch der Rundfunk NDR 1 brachte einen Beitrag in der Sendung „De Week op Platt“, und kommentierte das Geschehen mit scharfen Worten.

 

Den Täter zu überführen wird wohl sehr schwierig sein. Die hohe ausgesetzte Belohnung könnte aber möglicherweise doch noch wirken.

 

Wie hoch die Lebenserwartung der schon sehr alten Störchin noch ist, vermag keiner

zu sagen. Es bleibt nur zu hoffen, daß sie ihr Gnadenbrot in der Station in Erfde noch

eine zeitlang, möglichst schmerzfrei, erhalten kann.

 

Anmerkung: Am 13. September 2020 starb die Störchin, sie konnte nicht stehen und Nahrung aufnehmen. 

 

Ich hatte schon im Jahre 2005 die bis dahin vorliegenden Daten zu einem Bericht zusammengefasst. Das nunmehr traurige Ereignis habe ich zum Anlaß genommen, den Bericht quasi auf den aktuellen Stand zu bringen.

 

Nun sollen exemplarisch einige Daten der beringten Jungstörche genannt werden.

 

1X 845, beringt in 2004, dieser Jungstorch überwintert ebenfalls, und zwar in Bergenhusen, wo er alljährlich sogar Brutvogel ist. Seit 2008 verbringt er die Winter sowohl in Bergenhusen als auch im Westküstenpark, St. Peter-Ording. Für das Tier

liegen 20 Ablesungen vor.  

 

2X803 beringt 2005, Nachweis aus Medina/Sidonia/ Spanien, siehe Text zu 2005

 

2X822 beringt 2007, Nachweis auf Abocador/Girona/ Spanien

 

3X901 und 3X902, beringt 2007, Nachweis am 15.07.2007 in Mödlich/Prignitz

auf dem ersten Herbstzug.

 

0X206, beringt 2013, abgelesen am 03.05.2017 ist Osterhorn

 

0X979 beringt 2016; Nachweis am 16.08.2016 Lohe-Rickelshof, = 1. Herbstzug

 

8T377 beringt 2018 (letztes Junges der Störchin 775F) nachgewiesen am 22.08.2019

in Culemborg/Niederlande, in Entfernung von 368 km

 

Die umfangreichen Beringungslisten bergen ggf. noch manche Überraschung,

die zeitintensive Recherche werde ich aber gelegentlich noch mal vornehmen.

 

Verfasst am 02.10.2019, Rolf Zietz, Pahlkrug 15, 25791 Linden.

 

Ehrenamtlicher Gebietsbetreuer der AG Storchenschutz im NABU Schleswig-Holstein.